Jeden Abend ein Tiger

Der Tiger war orangefarben und schwarz gestreift. Sachte schritt er durch das von der Sonne versengte Gras. Geschmeidig schlängelte er sich zwischen den Bäumen hindurch und ließ sich wie ein zärtliches Kätzchen von den Gräsern liebkosten, während in seinen Augen gefährliche grüne Flammen tanzten.

Unerbittlich schüttelte er sein Haupt mit den riesigen, furchterregenden Kiefern, und dort, wohin sein Blick fiel, war augenblicklich alles verödet. Jegliches Leben erstarb, das Gras hörte auf zu wachsen, das Wasser stand plötzlich still, als hätte seit der Erschaffung der Welt bis zu diesem Augenblick nichts gelebt, nichts existiert.

Das schwarze Dreieck von Kimme und Korn ließ sich leicht wie ein Schmetterling auf dem Haupt des Tigers nieder.

„Soweit, so gut!“ dachte Anton Serafimow mit angehaltenem Atem und drückte das Gewehr bedächtig an die Schulter.

Plötzlich ließen sich rechterhand rasche abgehackte Trommelschläge vernehmen.

„Sie werden das Tier aufscheuchen“, dachte Anton Serafimow bei sich und warf einen flüchtigen Blick nach rechts, woher das Trommeln kam.

„Nicht ablenken lassen!“ sagte er sich. „Wenn man einen Tiger erlegen will, darf man sich nicht ablenken lassen. Wenn der Tiger merkt, dass die Aufmerksamkeit nachlässt…“

Doch der Tiger merkte nichts. Er schien die Trommelschläge nicht zu hören und lief leicht und biegsam zwischen den Bäumen weiter. Das schwarze Dreieck des Visiers zeigte nun mitten auf die Stirn des Tigers.

„Das ist der Moment!“ sagte sich Anton Serafimow und wollte gerade auf den Abzug drücken.

„Herr Serafimow!“ sagte der Tiger völlig unerwartet. „Warum wollen Sie mich töten?“

„Das weißt du nicht?“ fragte Anton ironisch. „Stell dich doch nicht so an!“

„Herr Serafimow!“ sagte der Tiger pathetisch. „Herr Serafimow!“

„Was soll das „Herr Serafimow“?“ fragte Anton. „Wenn ihr Unannehmlichkeiten habt und in der Klemme sitzt, schreit ihr alle „Herr Serafimow“.

Der Tiger schüttelte den Kopf.

„Man hat dich hereingelegt, Anton“, sagte er betrübt. „Man hat mich verleumdet. Es gibt böse Menschen, Anton.“

„Nicht wahr?“ sagte Anton Serafimow. „Aber du gehörst natürlich nicht zu denen, du bist der reinste Engel.“

Der Tiger schüttelte verzweifelt den Kopf, blickte Anton Serafimow mit unerwartet reinen Augen an und sagte mit hoffnungsvoller Stimme:

„Glaubst du mir nicht? Ich kann es beschwören.“

„Nicht nötig“, meinte Anton Serafimow kalt. „Schwüre sind nicht nötig.“

Der Tiger seufzte, blickte zum Himmel auf, als wolle er ihn zum Zeugen anrufen, um schließlich Anton zu verurteilen.

„So schieß doch!“ sagte er. „Wenn es dir nichts ausmacht, einen Unschuldigen auf dem Gewissen zu haben…“

„Ich weiß was ich zu tun habe“, beruhigte ihn Anton. „Du glaubst doch nicht etwa, dass mir das Gewehr aus der Hand fällt und dass ich mit Tränen in den Augen losstürzen werde, um dich zu umarmen.“ Er drückte das Gewehr fest an sich, zielte noch einmal genau auf das Kleinhirn des Tigers, und sein Finger am Abzug krümmte sich langsam.

„Ins Kleinhirn?“ fragte der Tiger.

„Ja“, entgegnete Anton Serafimow.

„Immer zielst du dorthin“, seufzte der Tiger und erstarrte.

Anton Serafimows Finger glitt über den Abzug, hielt inne und…

„Nein, Anton, nein!“ brüllte der Tiger. „Tu es nicht!“

„Nun reicht’s aber!“ rief Anton Serafimow überdrüssig. „Wir wollen doch nicht den ganzen Abend damit verlieren.“

„Herr Serafimow!“ sagte der Tiger mit einem Unterton in der Stimme. „Überlegen Sie gut, ob der Augenblick günstig ist. Sie wissen, dass das Kombinat…“

„Nicht bewegen!“ erwiderte Anton Serafimow mit eisiger Stimme. „Genau jetzt ist der richtige Augenblick. Du willst doch nicht etwa, dass ich dich morgen, auf der Sitzung vor allen…“

„Aber ich bin unschuldig!“ rief der Tiger aus.

„Du?“ entgegnete Anton Serafimow. „Du bist nicht unschuldig, du bist ein Usurpator. Nachdem du Petrow angeschwärzt hattest und er entlassen wurde, wurdest du…“

„Die Sache war die…“ begann der Tiger.

„Ich weiß, wie die Dinge liegen“, schnitt Anton Serafimow ihm das Wort ab. „Alles spielte sich vor meinen Augen ab. Nicht bewegen, habe ich gesagt…“

„Serafimow! Drück’ dich genauer aus!“

Anton Serafimow lachte nervös.

„Du verträgst keine Kritik, dabei bist du ein unfähiger Betriebsleiter, man sollte dich nicht nur kritisieren, sondern dir tüchtig auf die Finger klopfen. Warum wirfst du die raus, die dir auf die Schliche kommen?“

„Hm“, meinte der Tiger.

„Du vergisst dich. Leute, die eine andere Meinung haben als du, kannst du nicht ausstehen. Ganz egal, worum es geht. Wer nicht denkt wie du, wer nicht mit dir einverstanden ist, hat unrecht, der ist gegen die Zukunft des Betriebes, so ist es doch?“

Der Tiger leckte sich mit seiner großen roten Zunge.

„Und der wegen deiner Auslandsreise aufgeflogene Plan? Und die importierten defekten Fließbänder! Sie waren veraltet, noch bevor du sie gekauft hattest.“

Die Barthaare des Tigers zuckten nervös.

„Und überhaupt, warum mischst du dich in Dinge ein, von denen du nichts verstehst? Warum kaufst ausgerechnet du Maschinen? Warum machst du deine Italienreise nicht auf eigene Kosten?“

„Hören Sie zu, Serafimow…“

Doch Anton Serafimow, wollte nichts hören. Er sprach abgehackt, klar und logisch, rief ihm sein Verhalten, die Entlassungen und Sanktionen in Erinnerung, sagte, das alles gehe zu Lasten des Staates und schleuderte dem Tiger seine Anschuldigungen unumwunden in die furchterregenden grünen Augen. Und sie knallten wie Schüsse. In diesem Augenblick war Anton Serafimow regelrecht schön, er sprühte vor Eifer, und alles, was er sagte, war die reine Wahrheit.

Der Tiger zuckte mit keiner Wimper, stand angespannt da, ohne ein Glied zu rühren.

„Du hast wohl gedacht, ich werde immer schweigen, was?“ sagte Anton Serafimow schließlich. „Deinen Unverschämtheiten stillschweigend zusehen?…“

Er zielte genau auf das Herz des Tigers.

„Herr Ser…“ versuchte der Tiger auszurufen, doch das waren seine letzten Worte. Der orangefarbene Tiger fiel auf den Rücken und streckte die Beine in die Höhe.

„So!“ sagte sich Serafimow zufrieden und strich noch einen Namen in seinem Notizbuch durch. „Dem habe ich es auch gegeben“.

Befriedigt richtete er sich auf.

„Noch ein Gewehr?“ fragte die Frau in der Schießbude.

„Nein“, entgegnete Anton Serafimow, „nicht nötig.“

„Der Tiger heute Abend hatte es in sich“, sagte die Frau.

„Ja“, meinte Anton Serafimow bescheiden. „Er war nicht übel.“

Er gab ihr die üblichen fünfzig Stotinki und ging den Parkweg entlang.

Tagsüber arbeitete Anton Serafimow als stellvertretender Hauptbuchhalter im größten Werk der Kleinstadt. Nie hatte jemand ihn auf Direktionssitzungen oder auf Versammlungen reden gehört. Stets war er mit allem einverstanden, und die Leute hielten ihn für einen vernünftigen Menschen.

Den Tag verbrachte Anton Serafimow im Dienst, abends schoss er.

Er erlegte Tiger.

Jeden Abend einen.

Übersetzt von Martina Iwanowa