Eines schönen Abends besuchte uns unser Wohltäter Petrow. Er fasste in die Innentasche seiner Jacke und brachte von dort einen Hund zum Vorschein.
Das Tier war nicht größer als ein Tennisball und ebenso weiß. Petrow setzte es auf den Tisch, wo es sogleich den Blick senkte und schüchtern so sitzen blieb, als sei es gekommen, sich zu verloben.
Petrow aber verkündete: „Das ist er. Ein Prachtexemplar.“
Wir starrten das weiße Etwas an.
„Ein braver Hund“, sagte ich unsicher. „Und was hast du mit ihm vor?“
„Wieso?“ erwiderte Petrow. „Er gehört dir. Ich schenke ihn euch.“
Ich erinnerte mich nicht, mit Petrow jemals über einen Hund gesprochen zu haben. Weder mit ihm noch mit sonst jemandem, denn ich redete seit fünf oder sechs Jahren mit meinen Bekannten überhaupt nur über Wohnungen, weil ich keine hatte. Wir lebten zu der Zeit mit unseren drei Kindern in einem kleinen Einzimmerappartement, das buchstäblich nur einen Raum mit einer Küche daran hatte und zudem auch noch von einem Verhängnis bedroht war – das Gebäude stand vor dem Abriss, an seiner Statt sollte eine Post gebaut werden. Deshalb betrachtete ich den weißen Ball auf dem Tisch ziemlich skeptisch.
Die Perspektive, unsere enge Behausung mit einem wenn auch tragbaren Hund zu teilen, lockte mich keineswegs. Er wirkte zwar zurückhaltend und wohlerzogen, aber die Evolution hat der Menschheit ja auch schon größere Überraschungen beschert.
„Was ist denn?“ unterbrach Petrow meine Gedanken. „Gefällt er dir nicht?“
„Ich bin hier etwas beengt“, sagte ich. „Du siehst ja – ein Zimmer, Küche, drei Kinder und meine Frau… Aber der Hund ist hübsch. So schön weiß.“
„Sei nicht kindisch“, erwiderte Petrow. „Du hast doch gesehen, wo ich ihn vorhin rausgeholt habe. Er braucht nicht mehr Platz als ein Kugelschreiber.“
„Jetzt ja“, stimmte ich zu. „Aber später… Und warum besorgst du mir einen Hund? Es war doch von einer Wohnung die Rede.“
„Hast du schon mal was von Entfremdung gehört?“ fragte Petrow. „Daran sterben mehr Menschen als am Herzinfarkt. Nur langsamer.“
„Das ist schon wahr“, räumte ich ein. „Aber bei unserer begrenzten Wohnfläche…“
„Die spielt keine Rolle“, versicherte mir Petrow. „Ich leide in meinen fünf Zimmern schrecklich unter der Einsamkeit, die leeren Räume bedrücken mich so sehr, dass ich manchmal heulen möchte wie ein Wolf. Der Mensch braucht ein Wesen, für das er sorgen kann. Und das sich ihm verbunden fühlt.“
„Trotzdem…“, entgegnete ich.
„Der Hund ist notwendig für dein Gemütsleben“, erklärte Petrow kategorisch. „In unserer automatisierten Zeit bedarf man der Möglichkeit, sein menschliches Wesen zu beweisen und sich der Natur, den natürlichen Dingen anzunähern. Sonst geht man an der Entfremdung zugrunde.“
Mir blieb kein Ausweg.
„Außerdem“, fügte Petrow hinzu, „werden diese Art Hunde höchstens so groß wie ein Schuh. Das ist eine kleine Rasse.“
„Welche Schuhgröße?“ wollte mein kleiner Sohn wissen.
„Dreiundvierzig“, sagte Petrow. „Mehr nicht.“
„Und wie hoch wird er?“ fragte der Kleine weiter.
„Wie ein Skistiefel“, entgegnete Petrow. „Ohne den Hang.“
Dann berichtete er von einem einzigartigen Fall, in dem ein Hund dieser Art zur Höhe eines Schaftstiefels emporgewachsen war.
„Aber das ist in dreihundertfünfzig Jahren nur einmal vorgekommen“, versicherte er uns. „Und auch nur in Deutschland. Er steht jetzt in Wachs im Britischen Museum.“
„Und wie sieht’s mit einer Wohnung aus?“ fragte ich. „Besteht da irgendeine Hoffnung?“
„Also weißt du, ich bringe dir einen Hund aus der Schweiz mit“, sagte Petrow, „und du redest von einer Wohnung. Das regeln wir schon noch. Sieh lieber erst mal zu, dass du dich aus den Krallen der Entfremdung befreist.“
Er betrachtete noch einmal den Hund, der nach wie vor schüchtern auf dem Tischtuch stand, und ging davon.
Wir nannten unseren neuen Mitbewohner Mokassin. Das schien mir ein passender Name für einen Hund zu sein, der niemals größer werden sollte als ein Schuh.
Zehn Tage nach Petrows Besuch hatte er bereits die Schuhgröße fünfundvierzig erreicht. Wir gingen mit ihm eigens in den Übergrößenladen „Gigant“, um nachmessen zu lassen.
Ich rief sofort Petrow an, aber der war mit irgendeiner Delegation im Ausland.
Nach drei Wochen hatte der Hund Dimensionen wie ein Kalb, und als ich einen Monat danach von einer Dienstreise wiederkam, begegnete ich im Korridor einem weißen Pferd mit den äußeren Merkmalen eines Hundes.
Ich nickte ihm freundlich zu, sagte sogar „Wie geht es Ihnen?“ und schlüpfte völlig verwirrt an ihm vorbei in die Küche zu meiner Frau.
„Was ist denn das im Korridor?“ fragte ich flüsternd. „War Petrow noch einmal da?“
„Petrow ist noch im Ausland“, sagte meine Frau. „Das da draußen ist Mokassin.“
„Wie?“ rief ich verblüfft. „Er kann doch höchstens Schaftstiefelgröße…“
„Der Stiefel steht im Britischen Museum, dieser hier ist so groß wie ein Kamel und vertilgt eine halbe Kuh am Tag. Ich habe Angst, dass er eines Tages noch die Kinder frisst.“
„Nun hör aber auf“, sagte ich. „Hunde sind die treuesten Freunde des Menschen.“
„Das werden wir sehen.“ Meine Frau wiegte den Kopf. „Ich hege da doch ernste Zweifel.“
Die Lage war kompliziert.
Wegen seiner Größe nächtigte der Hund in unserem einzigen Zimmer, die Kinder schliefen in der Küche, und ich musste auf den Balkon.
Meine Ersparnisse schmolzen in zwanzig Tagen dahin – Mokassin zeigte einen ungewöhnlichen Appetit, und ich lebte tatsächlich in der ständigen Furcht, er könnte sich an den Kindern vergreifen.
Wenn er zum Spielen auf die Straße hinunterging, fielen dort die Leute vor Schreck in Ohnmacht, noch ehe er sie zum Spaß an der Nase leckte.
Mokassin war zwar körperlich gewachsen, geistig aber ein Kind geblieben. Er stahl die Schuhe der Nachbarn und brachte sie uns – das war sein Lieblingsspiel. Dabei deponierte er sie an den unmöglichsten Stellen, und während ich noch kategorisch leugnete, fremde Schuhe in der Wohnung zu haben, förderte eine sorgfältige Suche dieselben aus dem Kleiderschrank, dem Kühlschrank oder der Brotbüchse. Ich wurde der Liebling der Konfliktkommission, die sich abendelang mit mir beschäftigen konnte und auf diese Weise ihre in letzter Zeit etwas schleppende Tätigkeit neu belebte.
Das ganze Stadtviertel war gegen mich – es genügte, dass ein Kind mal vom Spielen nicht rechtzeitig nach Hause kam, und schon erschien Hals über Kopf eine weinende Mutter bei uns, gefolgt von einem Vater mit zusammengebissenen Zähnen und einem Jagdgewehr in der Hand, um Mokassin des Schlimmsten zu beschuldigen.
Vergebens erklärte ich, dass er, selber noch ein spielendes Kind trotz seiner Größe, nur die harmlosesten freundschaftlichsten Absichten hege und Hunde überhaupt die besten Gefährten des Menschen seien.
Des Nachts schlich ich über die Höfe und brachte heimlich die von Mokassin gestohlenen Schuhe zurück – tagsüber versteckte ich sie, damit die nachforschende Kommission der Stadtviertelvertreter sie nicht fand.
Meine Frau verlor als erste die Nerven und verkündete, dass ich mich entweder für sie und die Kinder oder für den Hund entscheiden müsse.
„Du weißt“, erwiderte ich sachlich, „dass von diesem Hund eine Wohnung für uns abhängt. Petrow hat versprochen, uns eine zu besorgen. Und zwar schon vor einem Jahr.“
„Das ist mir egal“, entgegnete meine Frau starrsinnig.
„Gut, dann verkaufe ich ihn. Vielleicht will jemand aus seiner Haut Trommelfelle oder Schuhe machen. Und was wird aus uns?“ sagte ich zu ihr. „Wir bleiben unser ganzes Leben lang in einem Zimmer hocken. Die Kinder wachsen schließlich heran…“
Sie weinte.
„Wir können Petrows Geschenk nicht weggeben“, fuhr ich fort. „Tränen nützen da gar nichts. Hier hilft nur Ausdauer.“
Wir hielten noch einen Monat durch.
Dann schrieb ich, um doch irgendwie aus dieser Situation herauszukommen, einen Brief an den Direktor des Britischen Museums. Ich teilte ihm mit, dass ich im Besitz eines Hundes der und der Rasse und mit den und den Ausmaßen sei und im Namen der Wissenschaft sowie der kulturellen Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern bereit wäre, ihn dem Museum zu vermachen. Völlig unentgeltlich, nur würde ich Wert darauf legen, dass seine Wachsnachbildung die Aufschrift trage: „Gestiftet von Petrow.“
Ich hoffte nämlich darauf, dass sich Petrow geschmeichelt fühlen werde, wenn sein Hund in den Sälen des Britischen Museums stand. Schon wenig später kam die Antwort.
„Dear Sir“, hieß es in ihr, „wir haben die Ehre, Ihnen unseren außerordentlichen Dank für Ihr großzügiges Angebot zu übermitteln. Zugleich müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, dass unser Museum leider über keinerlei Möglichkeiten verfügt, Ihren bemerkenswerten Hund aufzunehmen. Wir sind, die reine Wahrheit zu sagen, mit Hunden überreichlich versehen. Ein Exemplar mehr oder weniger würde die Effektivität der Situation nicht ändern. Empfangen Sie abermals unseren Dank und die Versicherung unserer besten Gefühle für Sie.“
Abgesehen davon, dass ich mit „Sir“ angeredet wurde, stimmte mich der Brief in keiner Weise froh.
Inzwischen zahlte ich den entsprechenden Behörden eine doppelte Hunde- und Pferdesteuer, außerdem hatte ich Mokassin pflichtgemäß gegen zwanzig Krankheiten impfen lassen, wofür mein halbes Jahresgehalt draufgegangen war, und mir die Akademie der Wissenschaften zum Feind gemacht, die die psychophysischen Besonderheiten des Haupthirns unseres Hundes vermittels thermischer Reize erforschen wollte.
In diesem Stadium entschloss ich mich, ihn umzubringen.
Nächtelang entwarf ich mit meiner Frau zusammen Pläne, wo, wie und womit die Untat zu vollbringen sei, so dass uns die Kinder schon „Lady Macbeth“ nannten.
Gerade war alles bereit, die Axt schwebte über Mokassins Haupt, mein Blut schäumte mir in den Adern, da klingelte es an der Tür. Ein Telegramm wurde gebracht.
Es kam aus London. Petrow fragte an, wie es dem Hund gehe. Außerdem teilte er mit, dass er ein sehr originelles Halsband für ihn gekauft habe.
Die Axt entfiel meinen Händen.
Wir lebten weiter wie bisher, wobei noch hinzukam, dass ich Telegramme nach Lausanne und Milano bezahlen musste, um Petrow Nachricht über Mokassins Befinden zu geben.
Der aber fühlte sich prächtig. Er fraß mit Appetit, ging regelmäßig spielen und ruhte am Nachmittag zwei Stunden.
Die Blätter an den Bäumen wurden gelb, es nahte der Herbst, der erste Reif ließ die letzten späten Blumen in den Gärten welken, zottige Wolken zogen am grauen Himmel auf, und der Winter folgte ihnen nach.
Auf dem Balkon zu schlafen bereitete zunehmend Schwierigkeiten; es schneite, und ich musste des Morgens mit der Schaufel freigelegt werden.
Petrow weilte noch immer im Ausland.
Dazu stellte sich auch eine ungeahnte Kälte ein, es fror Stein und Bein, die Kinder gingen nicht mehr zur Schule, in der Atmosphäre wüteten Antizyklone, und uns wurde klar, dass nachgerade unser Leben auf dem Spiel stand.
Petrow aber war noch immer nicht zurück.
Da gab ich eine Anzeige in die Zeitung, dass ich einen Hund gegen eine Dreizimmerwohnung zu vertauschen hätte.
Meine Frau sah mich mitleidig an und erklärte kühn, dass sich gewiss sofort eine Menge Interessenten melden würden; dann nahm sie die Kinder und schloss sich in der Küche ein.
Dort weinten sie alle vier die ganze Nacht.
Am anderen Morgen erschien eine energische junge Dame, die den Hund zu sehen wünschte. Es sei wegen der Anzeige in der Zeitung.
Ich führte ihr Mokassin vor.
Sie sagte, die Farbe sei ideal, und fragte nach dem Stammbaum.
Ich erwiderte, der Hund komme aus der Schweiz, und seine Papiere lägen zur Zeit in Zürich zur Überprüfung.
Da nahm sie Mokassin auch so.
Wir zogen in die Dreizimmerwohnung um, zu der, wie sich herausstellte, auch noch eine Dachkammer gehörte – etwa fünfzig Quadratmeter – und ein Bad.
Nach einer Weile spürten wir plötzlich, dass die Entfremdung an uns zu nagen begann.
Ich werde wohl Petrow, der noch immer im Ausland ist, schreiben müssen, dass er uns einen Hund mitbringt. In dieser automatisierten Zeit braucht man eine Gelegenheit, Mensch sein zu können.
Übersetzt von Hartmut Herboth