Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ob allerdings ein Dienstag oder ein Mittwoch, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.
Heutzutage kann man überhaupt nichts mit Sicherheit behaupten.
Oft sieht etwas anfangs wie ein Dienstag aus, es besitzt alle Merkmale eines richtigen Dienstags, und man glaubt, es sei ein Dienstag. Man ist sogar bereit, es zu beschwören.
Aber man beschwört es nicht.
Man wartet ein bisschen, es vergeht einige Zeit, und plötzlich stellt sich heraus, dass jenes Etwas tatsächlich kein Dienstag war, obgleich es alle entsprechenden Anzeichen aufzuweisen hatte – sie waren nur äußerlich gewesen.
Jetzt erinnert man sich, dass einem die Sache auch selbst schon verdächtig vorgekommen war – da ist etwas angeblich ein Dienstag, es tut so, als sei es ein Dienstag, doch wenn man näher hinschaut, dann sieht’s nur so aus. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, aber die Merkmale sind eben doch nur äußerlich.
Und aus diesen Gründen kann ich nicht sagen, ob jener Tag, an dem ich das Schaf auf der Weide sah, ein Dienstag war.
Zumindest war ich im Augenblick sicher, ein Schaf zu sehen, aber beschwören würde ich es trotzdem nicht.
Ich kann nur erklären, dass jenes Etwas gewisse Merkmale eines echten Schafes besaß, eines von denen, die als solche zu bezeichnen wir gewohnt sind.
Aber ob es in der Tat ein Schaf war oder etwas anderes, dafür kann ich mich nicht verbürgen.
Man wird zugeben, dass es für einen Einzelmenschen zu viel ist, eine solche Verantwortung zu übernehmen.
Also tue ich es auch nicht.
Unterstellen wir aber mal – ohne es zu beschwören – dass jener Tag ein Dienstag war und ich ein Schaf gesehen habe, so bin ich in der Lage zu sagen, dass es auffallend sittsam über die Wiese lief und schüchtern jeweils ein oder zwei Halme zupfte, wobei es sich bemühte, nicht zu schmatzen.
In einer Gemeinschaft muss man die Regeln der Nahrungsaufnahme beachten. Das Messer gehört in die rechte Hand, die Gabel in die linke, die Ellbogen liegen am Körper. Man schenkt zuerst der Dame ein, dann erst sich selbst. Lächle leicht beim Essen, aber nicht zu sehr. Nur so viel, wie es für die gute Stimmung der anderen angezeigt ist.
Das Schaf erinnerte sich dieser Vorschriften und lächelte verlegen. Sein Lächeln wirkte sehr angenehm.
„Warum grinst du denn so?“ riefen da die anderen. „Wie lange sollen wir dich noch erziehen?“
Das Schaf stellte schuldbewusst sein Lächeln ein.
„Die Regeln für das Essen in einer Gemeinschaft fordern doch…“
„Ach was! Du hast es gerade nötig, von einer Gemeinschaft zu reden! Du, ihr schwarzer Fleck!“
Das Schaf senkte betreten den Kopf. Das Kollektiv hatte recht, es so hart zu behandeln. Denn es war kein gewöhnliches Schaf, sondern ein schwarzes.
Jede Herde hat ein schwarzes Schaf.
Es ist der Schandfleck der Gruppe und blamiert diese bei allen feierlichen Anlässen, denn sosehr man es auch in den hinteren Reihen versteckt, es fällt doch immer auf.
Wie sollte es auch nicht – eine ideal weiße Herde, weiß wie eine Sommerwolke, rein wie eine Schneewehe, zieht dahin, und mittendrin schaukelt der normwidrige schwarze Kopf des schwarzen Schafes.
Das Kollektiv war ganz und gar weiß, ein Strauß Schneeglöckchen geradezu, und dazwischen nun plötzlich das schwarze Schaf. Nur dieses eine. Ganz und gar schwarz, wie Kohle. Wäre doch wenigstens ein Bein weiß gewesen!
Aber nein – alles schwarz, sogar die Augen.
„Was will es eigentlich mit dieser Schwärze bezwecken?“ fragten die Mitglieder des Kollektivs gereizt. „Uns zeigen, dass es was anderes ist als wir? Was Besseres? „Ihr alle seid weiß, aber ich, seht her, ich bin schwarz!“
Nichts als Sorgen bereitete ihnen dieses Schaf.
Trotzdem, sagte sich das Kollektiv, ist es unsere Pflicht, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um ihm zu einem normalen Aussehen zu verhelfen, damit es sich in die Gemeinschaft fügt und so wird wie wir alle!
Lange arbeiteten sie an ihm. Sie redeten ihm ein, dass ein schwarzes Schaf eine Schande für die ganze Herde sei und es günstigstenfalls an einem Gebrechen leide, von dem es radikal geheilt werden müsse, da sonst womöglich noch das ganze Kollektiv ins Unglück geraten werde.
„Ein Kollektiv muss eine Einheit bilden“, erklärten sie. „Es muss als geschlossener Block seinen Weg gehen, du aber spaltest die Reihen, du treibst einen Keil zwischen uns. Von wo aus man uns auch betrachtet, immer sieht man dich und deinen schwarzen Pessimismus.“
Es war kein Leben mehr für das schwarze Schaf in der Herde. Jeder seiner Schritte wurde bekrittelt, alles, was es tat, weckte Empörung. Wollte es einen Schluck Wasser trinken, riefen alle: „Wie denn, jetzt trinkt es? Ist schwarz wie die Nacht, aber muss unbedingt Wasser haben! Wer weiß, was es morgen verlangt!“
An allem Ungemach in der Herde war natürlich dieses Schaf mit dem verdammten schwarzen Kopf und den schwarzen Beinen schuld.
„Wie sollen wir jemals Erfolge erringen“, sprachen zu Recht die Weißen, „solange sich in unseren Reihen ein solches Schaf befindet? Man sollte es wirklich mal ernsthaft fragen, warum es eigentlich so schwarz ist!“
Aber das wusste das Schaf nicht. Es war schwarz zur Welt gekommen und hatte einfach so eine Natur.
„Die Zeiten sind vorbei“, sagte das Kollektiv, „in denen wir die Natur gefürchtet haben. Heute kämpfen wir gegen sie an, besiegen sie und machen sie uns dienstbar.“
Lange und beharrlich kämpfte das Kollektiv gegen die Natur, und am Ende begann sich das Schaf zur allgemeinen Freude tatsächlich zu verändern.
Zuerst wurde sein Kopf weiß.
Danach seine beiden Hinterbeine.
Erfreut über die Resultate, verdoppelte das Kollektiv seine Anstrengungen.
Das Schaf wurde zur Hälfte weiß. Es war nun ein halb schwarzes, halb weißes Schaf.
Und eines Tages war es ganz weiß.
Jetzt glichen sie allesamt weißen Sommerwolken und reinen Schneewehen.
Für das ehedem schwarze Schaf begann ein frohes Leben wie für alle übrigen. Es lief über die Wiese, wie es ihm gefiel, schlug Purzelbäume, hielt die Gabel in der rechten Hand und gebrauchte das Messer überhaupt nicht.
Das Leben war schön.
Eines Tages aber verdunkelte sich ganz plötzlich der Himmel, und Blitze durchschnitten die Finsternis. Regen prasselte nieder, die Bäume bogen sich im Sturm, der alles vor sich her trieb.
Unaufhörliche Wassergüsse peitschten die Erde, und das Kollektiv wurde völlig zerstreut, teils weggespült, teils vom Wind in verschiedene Richtungen abgedrängt. Einige versuchten, sich an etwas zu klammern, aber das gelang ihnen nicht, und der Wasserstrom riss sie fort, wobei sie sich verzweifelt bemühten, an der Oberfläche zu bleiben, um nicht zu ertrinken. Unser Schaf geriet in das Zentrum des Infernos, wurde an Bäume gestoßen und glitt mit den trüben Wassern einen Bach hinab.
Nach zwei Tagen ließ das Unwetter nach.
Das Schaf lief in die Berge und betrachtete froh die grünen Almen. Bald würde wieder das glückliche Leben beginnen, das Leben eines weißen Schafes.
Da hörte es weit unten im Tal die melodischen Glocken einer Herde und rannte sogleich Hals über Kopf darauf zu.
Als es näher kam, blieb es erstaunt stehen. Es traute seinen Augen nicht.
Die ganze Herde war schwarz.
Schwarz wie Kohle, ohne ein einziges weißes Schaf. Nur schwarze – die Köpfe schwarz, die Beine schwarz, ja sogar die Augen. Und es begann alles von neuem.
Jede Herde hat ein weißes Schaf.
Es ist der Schandfleck der Gruppe und blamiert diese bei allen feierlichen Anlässen, und sosehr man es auch in den hinteren Reihen versteckt, es fällt doch immer auf.
Wie sollte es auch nicht – eine ideal schwarze Herde, schwarz wie die Nacht oder ein Krähenflügel, und mittendrin schwankt der normwidrige Kopf eines weißen Schafes.
Das Kollektiv war ganz und gar schwarz, schwarz wie Spanier, und dazwischen plötzlich das weiße Schaf, weiß wie eine Schneewehe. Wenn doch wenigstens ein Bein schwarz gewesen wäre!
Aber nein – alles weiß, sogar die Augen.
Ein solches weißes Schaf ist eine Schande für die ganze Herde, es ist günstigstenfalls mit einem Gebrechen behaftet, das mit einem chirurgischen oder sonst was für einem Messer wegoperiert werden muss. Denn ein Kollektiv muss als geschlossener Block auftreten und eine Einheit bilden.
Wie aber soll das gehen mit einem solchen Schaf in den eigenen Reihen?
Es galt ohne Zweifel, den Fleck zu beseitigen, denn ein Kollektiv hat im Gleichschritt zu marschieren, da kann nicht jeder die Füße setzen, wie er will.
Und es begann eine harte Tätigkeit in dieser Richtung. Genutzt wurden dabei die bereits bekannten Methoden der Überzeugungsarbeit sowie auch andere spezifische Verfahren für den konkreten Fall, natürlich in flexibler Anwendung.
Das weiße Schaf bekam allmählich wieder seine schwarze Färbung. Aber welchen Preis es dafür zahlte, das wusste es nur allein.
Zuerst wurde es zur Hälfte schwarz, und das Kollektiv freute sich verdientermaßen schon seines Erfolges. Dann aber kam die Sache plötzlich ins Stocken. Der Wandel ging nicht weiter, und das Schaf blieb halb schwarz, halb weiß.
Die Gemeinschaft verdoppelte ihre Anstrengungen, doch vergebens.
„Es soll Farbe bekennen!“ riefen die Prinzipientreuesten. „Entweder schwarz oder weiß! So was ist Dualismus!“
„Nichts da!“ protestierten andere. „Was heißt hier „entweder – oder“? Hier gilt nur Schwarz!“
„Ziehen wir ihm doch die weiße Hälfte ab!“ schlug die Mehrheit vor.
Man einigte sich aber immerhin auf ein, allgemein gesehen, humaneres Vorgehen, der besseren erzieherischen Wirkung wegen.
Das Kollektiv arbeitete weiter an dem weißen Schaf, ohne die Mühe zu scheuen, und am Ende war ihm der Sieg beschieden – das Schaf wurde überall schwarz wie Kohle.
Eines Tages, als es ebenso dasaß und darüber nachdachte, wie kompliziert doch diese Welt eingerichtet sei, trat ein ebenfalls kohlschwarzes Schaf zu ihm und schlug einen gemeinsamen Spaziergang vor.
Als sie den nahen Bergkamm erreicht hatten, sagte das andere Schaf: „Kommt dir an mir nicht was bekannt vor?“
Das ehemals weiße Schaf sah es aufmerksam an, lauschte auch der Stimme nach und erwiderte überrascht: „Doch, ich kenne dich irgendwoher, aber ich kann mich nicht erinnern.“
„Denk mal ein bisschen nach!“ sagte das andere neckend.
„Deine Stimme ist mir sehr vertraut“, meinte das Schaf. „Aber was anderes fällt mir nicht ein.“
„Wir waren doch schon früher zusammen in einer Herde!“ half das schwarze Schaf lachend. „In der weißen! Ich weiß noch, wie du zu uns gekommen bist, schwarz wie eine Krähe.“
Erst jetzt begriff das ehedem weiße Schaf, weshalb ihm so vieles in seiner jetzigen schwarzen Herde bekannt vorkam.
„Aber… du warst doch… du warst doch weiß!“ entgegnete es verwirrt. „Ihr habt mich doch umerzogen und mich weiß gemacht. Wieso bist du jetzt schwarz? Musstest du etwa auch…“
„Woher denn!“ unterbrach es das andere. „Als ich in diese Herde kam, war ich schon schwarz.“
„Ja wie denn, mit deinem weißen Pelz?“
Das andere Schaf lächelte nachsichtig.
„Ganz einfach“, erwiderte es. „Ich bin gefärbt. Die drei da drüben, die dort bei den Büschen weiden, die stammen auch aus unserer alten Herde. Sie waren weiß wie Schneeglöckchen.“
„Die sind auch gefärbt?“
„Nur das eine“, entgegnete das gefärbte Schaf. „Die anderen beiden sind schwarz von Natur, die waren damals für die weiße Herde umgefärbt.“
Unser Schaf schaute verblüfft zu den dreien hin.
„Im übrigen“, sagte das gefärbte noch, „bin ich nicht ganz sicher. Woher soll man letztlich wissen, was einer früher war?“
Unser Schaf dachte mit unverwandtem Blick bei sich, wie einfach diese Welt, diese weiße schwarze Welt, doch eingerichtet sei. Dann fragte es, wo man sich denn schwarz oder weiß umfärben lassen könne.
„Das macht jeder selber“, erwiderte das andere. „Es kann einen niemand umfärben, wenn man es nicht selbst tut. Jeder für sich allein.“
Übersetzt von Hartmut Herboth