Kirschendiebe

Die Kirschen waren reif, und wir zogen los, um im Hof des Eisenbahners Kirschen zu stehlen.

Es war dunkel, am Himmel standen Sterne, aber kein Mond. Wer weiß, wohin der Mond manchmal geht, dass er die ganze Nacht nicht da ist. Gurko verspätete sich wie immer, und wir mussten eine halbe Stunde auf ihn warten. Sicher hatten sie ihn zu Hause gezwungen, in der Werkstatt zu helfen, und er hobelte jetzt an einem Brett.

„Sein Vater baut ein Bienenhaus in drei Tagen“, sagte Toni. „Mit Türchen, mit kleinen Brettchen zum Landen und allem. Am vierten Tag streicht er es an, und fertig.“

„Mir hat Gurko erzählt, dass sein Vater ein Bienenhaus in sechs Stunden bauen kann“, bemerkte ich. „Mit einer halben Stunde Mittagspause.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Toni überzeugt. „Wenn er es kann, warum macht er’s nicht?“

„Weil das den Preis drücken würde“, erklärte ich ihm. „Es ist was anderes, wenn du sagst, du hast dich fünf Tage damit herumgeplagt. Dann kannst du mehr nehmen.“

„Vielleicht hast du recht“, gab Toni nach. „Sein Vater versteht mehr davon als wir.“

Auf der Straße war es dunkel und warm, nur vor dem Laden von Koljo dem Barbier leuchtete schwach die Straßenlaterne. Die anderen Laternen waren nicht vorhanden – wir hatten ihnen längst mit unseren Schleudern den Garaus gemacht.

Wir hätten auch diese nicht ausgelassen, aber bisher war der Kelch an ihr vorübergegangen – jedesmal, wenn wir uns an sie erinnerten, kam uns etwas Wichtigeres dazwischen. Wie jetzt zum Beispiel: Kirschen stiebitzen war hundertmal interessanter als eine Laterne zertrümmern, obwohl auch das eines Tages passieren würde.

Seit dem Diebstahl der großen Salami, die dann nur eine Attrappe voller Hobelspäne gewesen war, hatten wir eigentlich geschworen, so etwas nicht mehr zu tun.

Aber die Kirschen waren etwas ganz anderes. Erstens waren sic in unserer Straße gewachsen und reif geworden, und damit hatten wir ein Recht auf sie. Wenn wir sie nicht nahmen, würden sie den Kindern von der Blumenstraße in die Hände fallen, und die würden dabei alles im Hof zertrampeln. Außerdem konnte bei Kirschen nichts schiefgehen, man wusste, dass sie nicht mit Hobelspänen gefüllt waren, man wusste, auf welchem Weg man an sic herankam, man wusste, wann sie am besten schmeckten…

Mit den Kirschen war alles einfach.

Vom oberen Ende der Straße ertönte ein Pfiff, kurz darauf war Gurko schnaufend und keuchend bei uns angelangt.

„Mir reicht’s mit diesen Bienenhäusern!“ sagte Toni zu ihm. „Wollt ihr vielleicht Suppe daraus kochen? Bis jetzt habt ihr eine Million Bienenhäuser gebaut. Meinst du vielleicht, dass es in Bulgarien eine Million Bienen gibt?“

„Vielleicht“, sagte ich. „Man kann es nicht wissen.“

„Ja, du hast sie gezählt!“ brauste Toni auf. „Eine nach der anderen, mit dem Rechenbrett!“

„Es wird kein Bienenhaus!“ sagte Gurko triumphierend. „Was ganz anderes!“

„Was denn?“ fragten Toni und ich wie aus einem Mund.

„Wenn es fertig ist, werdet ihr’s sehen“, antwortete Gurko ausweichend. „Aber es ist noch nicht fertig.“

„Und so was nennt sich Freund!“ sagte Toni. „Wir warten hier ’ne halbe Stunde, und er druckst rum und will seinen Freunden nicht sagen, was er in der Werkstatt gemacht hat.“

„Wirklich ein schöner Freund!“ Ich fühlte mich auch gekränkt. Gurko kratzte sich den Kopf und schaute uns an, um zu prüfen, ob wir es ernst meinten. „Gut, ich werd’s euch sagen. Wir bauen eine Karosse.“

„Was?“ fragten wir zweifelnd.

„Eine Karosse! Wisst ihr nicht, was ’ne Karosse ist?“

„Bist du vielleicht betrunken?“ fragte Toni misstrauisch. „Du weißt wohl nicht, was du sagst?“

„Bin ich nicht“, sagte Gurko. „Warum?“

„Wozu wollt ihr denn Karossen bauen? Bei Bienenhäusern ist die Sache klar, aber Karossen? Sag bloß, dass einer mit ’ner Karosse zur Arbeit fährt. Die Leute lachen sich ja kaputt.“

„Sie werden sie die Straßenbahnlinie langfahren lassen“, fügte ich hinzu. „Und Fahrgeld verlangen.“

„Was versteht ihr schon von Karossen“, sagte Gurko.

„Wenn du es so genau weißt, dann sag doch, wozu ihr die Karosse baut! Wollt ihr damit nach Bankja fahren?“

„Wir bauen sie fürs Museum“, sagte Gurko lässig. „Früher gab es mal solche, und wir bauen sie genauso. Nach Zeichnung.“

Wir ärgerten uns, weil Gurko wie ein Professor redete, und fragten ihn: „Gehn wir jetzt Kirschen holen oder nicht?“

„Wieso nicht? Deswegen sind wir doch hier.“

„Also los“, sagte ich, „sonst wird’s zu spät.“

Wir gingen in Tonis Hof und kletterten von dort aus über die Zäune. Wir hatten schon den Hof des Eisenbahners erreicht, als Toni, der voranging, fluchend stehenblieb.

„Was ist los?“ flüsterte Gurko. „Brennnesseln?“

„Sie haben die Latte festgenagelt“, antwortete Toni ebenso leise. „Die wir losgemacht hatten, damit wir durchkönnen.“

„Diese blöden Krämer“, sagte ich. „Sie haben sie festgemacht, damit ihnen die Hühner nicht weglaufen. So knickrig sind die.“

Die Leute waren wirklich knickrig, obwohl sie tatsächlich früher mal Krämer gewesen waren und die Leute kräftig übers Ohr gehauen hatten. Ständig liefen ihnen die Hühner weg, und sie suchten sie in den Höfen der ganzen Straße, wobei sie sich verguckten und von jeder zweiten Henne behaupteten, es sei ihre. Und jetzt hatten sie die Latte festgenagelt, die wir vor zwei Tagen gelockert hatten, um in den Hof des Eisenbahners zu gelangen.

„Was hilft’s“, sagte Toni. „Wir müssen über den Zaun.“

Wir kletterten in den Hof des Eisenbahners und sprangen in stachliges Gebüsch, wir bekamen Kratzer, schwiegen aber, denn wer keine Kratzer bekommen und nicht von Zäunen springen will, der soll sich seine Kirschen auf dem Markt kaufen.

Dann krochen wir aus dem Gebüsch, blieben stehen und sahen uns um. Im Dunkeln leuchtete das Schlafzimmerfenster. Kurz darauf erlosch das Licht, und das Küchenfenster wurde hell. Wir konnten die Frau des Eisenbahners sehen, sie stand mit dem Rücken zum Fenster und kämmte sich das Haar. Sie hatte langes, blondes Haar, das sie nie ondulierte, und wenn die Sonne darauf schien, schimmerte es wie Glimmer.

Sie kämmte sich lange, dann verschwand sie vom Fenster, aber das Licht brannte weiter. Wir mussten warten, bis sie zu Bett ging, sonst würde sie uns sehen. Also krochen wir ins Gebüsch zurück und legten uns hin.

Im Hof war es dunkel und warm, es duftete nach Pfingstrosen und Flieder. Die Sterne waren am Himmel weitergewandert, und wir unterhielten uns über den Eisenbahner.

„Der hat’s gut“, sagte Gurko. „Er hat ’ne Uniform, er hat Freifahrscheine und kann reisen, wohin er will.“

„Genau“, sagte Toni. „Wenn er Lust hat, fährt er nach Warna oder nach Plowdiw oder nach Burgas. Er sitzt im Abteil, und die Bahnhöfe, die Häuser, die Felder fliegen vorüber. Das ist ein Leben!“

„Ja“, stimmte ich zu. „Man reist wochenlang hin und her, jetzt ist man in einer Stadt, nach drei Stunden in der nächsten und abends wieder ganz woanders. Was du da siehst, das kriegt ein anderer das ganze Jahr nicht zu sehen. Wir sitzen hier in diesem Hof, und er fährt wer weiß wohin…“

„Ich bin mal nach Pernik gefahren“, erzählte Gurko. „Wir haben auf zweiundfünfzig Bahnhöfen gehalten.“

„Bis Pernik ist es nicht weit, da gibt es keine zweiundfünfzig Bahnhöfe“, bemerkte Toni. „Aber der Eisenbahner fährt jetzt vielleicht nach Russe. Warst du schon in Russe?“

„Nein“, antwortete Gurko bedauernd.

„Das ist an der Donau!“ sagte Toni. „Man fährt die ganze Nacht, und am nächsten Morgen ist man da.“

Gurko öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er konnte nicht, denn in diesem Augenblick ging das Tor zur Straße auf, und ein Mann betrat den Hof. Er ging auf das Haus zu.

„Der Eisenbahner!“ flüsterte Toni. „Jetzt sind wir angeschmiert.“

„Kommt, wir verdrücken uns!“ schlug Gurko vor. „Der Eisenbahner sitzt gerne im Hof. Wenn er rauskommt, sieht er uns.“ „Warten wir, bis er reingegangen ist, dann hauen wir durchs Tor ab“, sagte ich.

So machten wir es auch. Wir drückten uns ins Gebüsch und beobachteten, wann der Eisenbahner das Haus betreten würde, damit wir verschwinden konnten.

Aber er blieb an der Tür stehen und klopfte. Die Tür öffnete sich sofort, und auf der Schwelle erschien die Frau mit dem blonden Haar. Sie fasste den Mann an den Händen. Das Licht fiel auf die beiden, und wir sahen, dass der Mann gar nicht der Eisenbahner war.

Die Frau zog ihn an sich, sie gingen ins Haus, und die Tür schloss sich.

Wir schwiegen. Die Sterne waren weit weg gewandert, im Hof duftete es nach Pfingstrosen und Flieder. Zehn Schritt von uns entfernt waren die reifen Kirschen.

„Das war nicht der Eisenbahner!“ sagte Gurko nachdenklich. „Natürlich nicht!“ sagte Toni leise. „Es war ein anderer.“

„Jetzt fährt der Eisenbahner vielleicht nach Russe“, sagte ich. „Die ganze Nacht durch.“

Das Küchenfenster wurde dunkel, und eine Sekunde später ging im Schlafzimmer das Licht an. Der Wind raschelte im Gebüsch über uns, in der Ferne pfiff ein Zug.

„Ich schlag ihr die Fenster ein!“ sagte Toni. „Salz mach ich ihr daraus. Jetzt gleich!“

„Die Fenster gehören auch dem Eisenbahner“, erinnerte ich ihn. „Dann reißen wir die Rosen und die Blumen im Garten aus“, schlug Gurko vor. „Und zertrampeln alles.“

„Die Blumen gehören auch dem Eisenbahner“, sagte Toni. „Ersitzt so gerne im Garten.“

Wir schwiegen hilflos und wütend. Zehn Schritt weiter waren die reifen Kirschen. Es duftete nach Blumen und nach Wind, er kam von weit her und trug das Aroma aller Orte mit sich, die er besucht hatte.

Das Licht hinter dem Schlafzimmerfenster verlosch.

In der dunklen Nacht standen wir drei Kirschendiebe, die Sterne waren unendlich weit weg, wir waren wütend und hilflos.

Übersetzt von Barbara Sparing