Die Kapitäne in der Bucht von Biscaya

Das Schiff schoss durch die Wellen dahin. Alle Segel waren gesetzt. Vom Mast wehte die Totenkopfflagge. Die Möwen umkreisten schreiend das Schiff und verschwanden hinter dem Horizont.

„Äußerste Kraft voraus!“ rief Toni, „wir müssen ihn einholen.“

„Alle Segel sind gesetzt, Sir“, gab Gurko zur Antwort.

„Den letzten Lappen hoch, der sich an Bord findet“, brüllte Toni, „sonst entkommt er uns.“

„Ay, ay, den letzten Lappen hoch“, wiederholte Gurko den Befehl. Toni verschob die schwarze Klappe über seinem Auge und schaute nach vom. Die Brecher gingen über den Bug des Piratenschiffes. Sie brandeten gegen die geschlossenen Luken, und das Schiff schwankte.

Wir standen auf der Brücke, Pistolen in den Händen. Finster beobachteten wir den Ozean. Vor uns segelte wie ein verschreckter Vogel das Handels­schiff „Eduard VII.“. Man konnte die erschreckten Gesichter der Matrosen erkennen und auch die Passagiere, die den Tag verfluchten, an dem sie die­ses Schiff betreten hatten. Sie liefen aufgeregt auf dem Deck hin und her und wussten nicht, was tun. Einige sanken auf die Knie und beteten.

Unser Schiff setzte wie ein Raubvogel dem Handelsschiff nach. Die Krallen schwebten schon über den verängstigten Seeleuten. Wir standen lächelnd auf der Brücke und besahen die uns vertraute Szene.

„Fertigmachen zum Entern!“ befahl Toni.

„Ay, ay, Sir. Fertigmachen zum Entern!“

„Die Haken bereit.“

„Ay, ay, Sir, die Haken.“

Die „Eduard VII.“ unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, zu ent­kommen. Sie änderte plötzlich ihren Kurs, bog scharf im rechten Winkel ab und steuerte auf den Archipel Taitau zu, der aber noch ungefähr 300 Meilen entfernt lag.

Aber auch das half nichts. Wir hatten dieses Manöver rechtzeitig erkannt und schnitten ihr den Weg ab. Wir kamen ganz nahe heran und schauten in verzweifelte Gesichter. „Enterhaken bereit!“ ertönte Tonis Stimme.

„Ay, ay, Sir, Enterhaken bereit!“

Die Schiffe waren sich jetzt ganz nahe, und mit Pistolen und Degen in den Händen schickten wir uns an, hinüberzusteigen.

Aber in diesem Augenblick ließ uns eine Frauenstimme innehalten.

„Toni“, rief die Stimme, „Toni!“

„Ja“, antwortete er, „hier bin ich.“

„Geh Milch kaufen!“ rief unten seine Mutter, „auf dem Rückweg kannst du gleich auch noch zwei Kilo Paprikaschoten mitbringen. Aber pass auf, dass sie dir nicht wieder verfaulte anhängen wie letztes Mal.“

Toni schaute uns mit einem Auge an. Das andere Auge war von der Klap­pe verdeckt.

„Komm jetzt … ich geb’ dir Geld!“ rief die Mutter, „beeil dich doch. Die Läden machen bald zu.“

Toni kniff die Lippen zusammen, nahm die Augenklappe ab, und dann ging er einkaufen.

Unterdessen konnte die „Eduard VII.“ entkommen. Sie segelte jetzt dem Archipel Taitau entgegen.

„Wie kann man nur einen Piraten nach Milch schicken!“ ereiferte sich Gurko, „das ist mir ein rechter Seeräuber… haut ab, weil er zwei Kilo Paprika holen muss.“ Gurko war bis jetzt immer nur Zweiter Kapitän an Bord. Er hätte gern den Ersten Kapitän abgelöst. „Und sie geben ihm auch noch verfaulte…“, schürte er die Revolte weiter. „Er aber lässt sie sich andrehen! Was für ein Kapitän!“

Immer wenn wir Zeit hatten, versammelten wir uns bei Toni auf dem Dach, und von dort ging es hinaus in die weite Welt.

Wir hatten alle Bücher von Emilio Salgari gelesen und überhaupt jedes Buch über Piraten und Weltreisende, dessen wir habhaft werden konnten. Alles Geld für Schmetterlinge, die wir einem Schüler aus den oberen Klas­sen verkauften, legten wir in solchen Büchern an.

In den Büchern lernten wir Meere und Stürme kennen. Wir hörten von Se­gelschiffen und Piratenüberfällen. Wir waren schon überall herumgekom­men. Wir hatten Fische an der Mündung des Orange-Flusses gefangen. Wir transportierten Tee auf Dschunken im Chinesischen Meer, und die Küsten­wacht war hinter unseren Schmugglerbooten her. Aber wir versteckten uns in kleinen Buchten, und erst als sie vorbei waren, segelten wir weiter.

Wir kannten uns auf dem Gelben Meer aus, als sei es unsere Hosentasche. Wir hatten das Kap der Guten Hoffnung umsegelt und hatten Kokosnüsse in Tahiti an Bord genommen. Wir waren in einen Taifun geraten. Tonnen von Wasser schütteten sich über uns aus, der Mast und die Rettungsboote gingen über Bord.

Eine große Welle schlug das Steuer ab, und das Schiff trieb hilflos dahin. Die Wellen griffen es, als sei es ein Spielzeug. Es zerbrach in zwei Teile, und wir wären alle ertrunken, wenn nicht in diesem Augenblick Tonis Mutter auf dem Dachboden erschienen wäre, um nachzuschauen, was los sei, weil wir wie am Spieß schrien, oder eben wie jemand, der am Ertrinken ist und Gott und seine Mutter anruft.

Wir lebten lange auf den Meeren des Südens und unter großen Sternen. Wir sahen das Kreuz des Südens am wolkenlosen Nachthimmel und bei gelbem Mond. Wir trieben mit Eingeborenenbooten in ruhigen Lagunen. In der weichen Luft wiegten sich schlanke Palmen. Wir hörten Geschichten von unbekannten Inseln, die noch auf ihren Entdecker warten, von Liebe und Tod, Hass und Rache.

Toni kam vom Einkaufen zurück und legte seine Augenklappe wieder an. Er fragte: „Was ist mit der ‚Eduard VII.‘ geworden? Habt ihr sie ent­kommen lassen?“

„Auf und davon“, antwortete Montscho finster.

„Du musstest ja unbedingt Paprika kaufen“, fügte Gurko hinzu.

„Was willst du damit sagen?“ fragte Toni mit schneidender Stimme, „ist etwa auf diesem Schiff eine Meuterei ausgebrochen?“

„Nichts Meuterei. Wir haben gewartet, dass du zurückkommst.“

„Es waren ziemlich viele Leute im Laden“, sagte Toni, „übrigens habe ich Ilia gesehen. Er stand nach Milch an.“

„Warum hast du ihn nicht gerufen?“ fragte Montscho.

„Ich habe ihn gerufen“, sagte Toni, „aber er musste noch Brot holen, und danach hat er noch andere Arbeiten zu erledigen.“

Die Kinder in der Straße gaben alles dafür, zu Toni auf den Dachboden kommen zu dürfen, um von dort in die weite Welt zu fahren.

Ilia war mit auf Walfang ins Nordmeer gefahren. Das Meer war wild. Es schneite. Das Schiff stampfte. Wir hatten keine Kohlen mehr. Da verbrann­ten wir die Verschalungen, die Türpfosten, die Bettgestelle und überhaupt alles, was sonst noch an Bord aus Holz war. Das Packeis nahm uns in die Zange. Wir konnten uns mit dem Schiff nicht mehr bewegen. Einen ganzen Winter lang waren wir eingeschlossen. Hunger und Kälte machten uns schwer zu schaffen.

Vielleicht, dass Ilia da Angst bekommen hatte. Aber vielleicht war ihm auch bei der Prügelei in Hongkong bange geworden. Dort lagen wir mit der „Santa Maria“ im Hafen. Es gab eine Schlägerei, die man so leicht nicht vergisst. Es waren ein paar Norweger, die anfingen, aber mit der Zeit waren alle Seeleute, die sich zu dieser Zeit in der Pinte aufhielten, darin ver­wickelt. Stühle flogen, Messer blitzten. Es gab großes Geschrei, und so mancher Kiefer wurde zerquetscht.

Ilia fuhr immerhin noch ein-, zweimal mit uns… nach Hawaii und nach Java. Aber dann blieb er fort, bekam Angst vor dem Risiko. Vielleicht war er auch eine Landratte. Ich weiß es nicht. Jedenfalls kam er nicht mehr. Es mag wohl daran gelegen haben, dass er nicht genug von Emilio Salgari gele­sen hatte, und in den anderen Büchern brannte nicht dasselbe verlockende Feuer.

Bestimmt war er eben eine Landratte, und einmal würde ein Angestellter aus ihm werden, der acht Stunden in einem staubigen Büro hockte oder in einem Laden hinter der Theke stand und Hartkäse oder Sonnenblumenöl verkaufte.

„Da ist er. Er geht unten vorbei“, verkündete Montscho. Ilia führte die Ziege seiner Eltern durch die Straße und pfiff vor sich hin.

„He Ilia“, riefen wir, „wohin gehst du denn mit der Ziege? Komm doch zu uns rauf!“

„Geht nicht“, rief er zurück, „ich bring’ sie in den Garten. Sie muss gra­sen.“

„Ach was“, riefen wir aus dem Fenster, „lass doch die Ziege sausen. Wir fahren in die Bucht von Biscaya… hörst du: in die Bucht von Biscaya!“ Ilia winkte uns zu, pfiff weiter und zog seine Ziege hinter sich her zum Garten. Und wir stachen in See…

Eines Tages, zwanzig Jahre später, traf ich zufällig Ilias Mutter in der Stra­ßenbahn.

„Guten Tag!“ grüßte ich sie, „Wie geht es Ilia?“

„Oh, es geht ihm gut“, antwortete sie, „du weißt doch, er fährt zur See. Ir­gendwo in der Biscaya treibt er sich jetzt gerade herum. Ganz genau weiß man es nie.“

Ilia war Dritter Kapitän auf einem Schiff. Er fuhr auf dem weiten Meer, sah Sonnenuntergänge. Voriges Jahr sei er in Japan gewesen, erzählte seine Mutter, Postkarten habe er ihr geschickt, vom Gelben Meer, von Korallen­inseln, von Südseearchipelen mit Palmen. Aber jetzt schwimmt er in der Bucht von Biscaya…

Und wir sitzen in Büros, bringen die Registratur in Ordnung, und abends, ehe wir heimgehen, laufen wir noch über den Markt und holen Zwiebeln und Kartoffeln für unsere Frauen.

Nur manchmal abends, wenn wir das Geschirr abgewaschen und die Fliegen aus der Küche verjagt haben, fällt unser Blick zufällig auf den Sternenhim­mel draußen, und wir erinnern uns an das Kreuz des Südens und an die Bucht von Biscaya, an die endlosen Strände, an Liebe, Tod, Hass, Rache, an die unbegrenzten Weiten des Ozeans. Dann küssen wir demütig unsere Frauen auf die Stirn, sagen „Gute Nacht“ und versinken in tiefe Träume.

Übersetzt von Reni Kitanova und Frederik Hetmann