Weder Lieder noch Hufschlag

Die Geschichte hat nur goldene Seiten. Auf einer davon steht der Satz, der noch heutigentags als Schulbeispiel für lakonische Kürze gilt und die Menschheit begei­stert:

Ich kam, sah und siegte.

Aber die Menschheit weiß nicht, wie er zustande kam.

Ein berühmter Feldherr – seinen Namen habe ich verges­sen – zog in die Schlacht. Allein.

Sein Heer zog nicht mit. Es hatte zwar den Befehl dazu erhalten; die Richtung war angegeben und auch, in wieviel Reihen vorgegangen werden und aus wieviel Reitern jede Abteilung bestehen sollte. Das alles wusste das Heer, aber es rührte sich trotzdem nicht von der Stelle. Und zwar deshalb nicht, weil es nichts hatte, womit es hätte losziehen können. Es waren keine Pferde da.

Vordem waren wohl welche dagewesen, aber die hatte das Heer aufgegessen, aus Mangel an anderer Kost.

Daran fehlte es nämlich wegen gewisser Missstände beim Tross und in der Versorgung.

Es hatte sich herausgestellt, dass der schwer mit Nah­rungsmitteln und Wein beladene Tross, der gewöhnlich einen halben Tag den Truppen nachfolgte, plötzlich weg war.

Näheres wusste niemand. Die Geschichte erklärt die Sa­che als eine historische Notwendigkeit. Das behauptet die Geschichte, aber nach dem, was böse Zungen in jener Zeit erzählten, war die Notwendigkeit doch nicht ganz so histo­risch.

Kurz und schlicht gesagt, hatte der Nachschubhaupt­mann die Versorgungsbasis irgendwohin beiseite geschafft und alle Nahrungsmittel samt dem Wein verkauft, worauf er mit dem erzielten Geld viele Jahre ein ehrbares, geachtetes Leben führte.

Aber die bösen Zungen machen nicht die Geschichte. Dort liest man auf vielen Seiten allenfalls was von ausge­schnittenen Zungen. Darüber hinaus spielen die Zungen in der Geschichte keine Rolle.

Der Feldherr ritt also auf seinem Ross fürbass; die Sonne schien, und er war ganz allein, nur begleitet von seinem Schatten.

Er wandte sich nicht zurück. Ein Feldherr wendet sich niemals zurück. Er schaut nur vorwärts, und die anderen folgen ihm.

So verfuhr auch dieser Feldherr, aber schließlich kam ihm die Sache doch merkwürdig vor, da er hinter sich weder Lie­der noch Hufschlag hörte.

Da ließ er sein Pferd einen großen Bogen laufen und ritt in die andere Richtung abermals vorwärts, ohne zurückzu­blicken.

Nun spornte er sein Reittier, ohne sich umzudrehen, bis er seine Truppen erreichte. Dort befasste er sich damit, sei­nen Untergebenen ins Hirn zu prägen, dass sie ihm auf jeden Fall zu folgen hätten. Pferde seien eine zeitweilige Erschei­nung, erklärte er, heute gäb’s welche, morgen nicht, sie aber hätten die Pflicht, jederzeit hinter ihm zu sein.

Inzwischen verlor der Feind die Geduld, das heißt, er wurde nervös. Und als sein Nervensystem schon völlig durcheinander war vom Warten und vom Zweifel darüber, ob die gegnerischen Horden noch kommen würden oder nicht – da kamen sie. Und zwar zu Fuß.

Eben dieser Umstand aber brachte den Feind vollends aus dem Konzept.

Wie denn auch nicht – da versagt doch jegliche Strategie: Man erwartet eine Reiterei, man hat sich Pläne für einen Angriff auf die Flanke ausgearbeitet, und auf einmal kommt ein Haufen zu Fuß, es sind keine Pferdeflanken zu sehen und auch kein richtiges Zentrum. Kann man denn mit so was kämpfen?

Trotzdem unternahm der Feind eine verzweifelte Attacke – was blieb ihm auch anderes übrig? Und wer weiß, was ge­schehen wäre, hätte der Feind in seiner Nervosität und Verwirrung nicht nach halbstündigem Kampf einen fatalen Feh­ler begangen – er zog sich nämlich an den Rand des Schlachtfeldes zurück und begann dort einen Streit in den eigenen Reihen.

Jeder beschuldigte jeden, alle nannten sich gegenseitig Verräter und Idioten, weil niemand den schlauen Schach­zug des Gegners, zu Fuß anzurücken, vorausgesehen hatte. Am Ende gingen sie mit ihren Piken aufeinander los, und ein Teil ergab sich.

So endete die Schlacht. Es kam die Zeit der Berichterstat­tung.

Jeder, selbst der Berühmteste, muss von Zeit zu Zeit einen Bericht erstatten. Manchmal nur formell, manchmal auch wirklich, aber es muss sein. Wegen der Illusion.

Auch unser Feldherr gab genau Rechenschaft. Er berich­tete von dem verschwundenen Tross und davon, dass die Truppe zu Fuß in die Schlacht ziehen musste und sich kaum auf den Beinen halten konnte, dass die Elitelegionäre die Kampfstatt schnöde verlassen hätten, und auch von allem übrigen.

Er erwähnte auch den fatalen Fehler des Gegners.

Zwanzig Papyrusrollen schrieb er voll.

Nun muss ja jedes Organ und jede Persönlichkeit, der man Rechenschaft gibt, ebenfalls wieder Rechenschaft able­gen – sei es vor dem Volk, vor sich selbst oder vor der Geschichte.

So bereiteten die Persönlichkeiten oder Organe – oder was immer es damals gab – den Rechenschaftsbericht des berühmten Feldherrn zur Weiterverwendung vor.

Die Sache mit dem Tross – es wäre unangenehm, einen solchen Vorfall breitzutreten. Immerhin tragen wir die Ver­antwortung vor der Geschichte. Der Nachschubhauptmann ist ein Schuft, aber doch einer von uns. Wir haben ihn schließlich auf diesen Posten gesetzt.

Die Elitelegionen – nun ja, sie sind ausgerissen, das hätte jeder andere in diesem Stadium auch getan. Aber kann man denn so die Geschichte schreiben, unsere Elitelegionen seien geflohen?

Das Verhalten des Gegners – er hat einen fatalen Fehler gemacht, das ist wahr. Aber so dargestellt, hat er sich ja selbst besiegt. Wo bleibt da die patriotische Erziehung, und was wird man von unseren Truppen denken?

Eine ähnliche Behandlung erfuhren auch alle anderen Punkte.

Und so blieb für die Geschichte nur der historische Satz: Ich kam, sah und siegte.

Übersetzt von Hartmut Herboth