Der Alte schlief. In diesen letzten Herbsttagen brachen die Sonnenstrahlen um die Mittagszeit durch und wärmten etwas die Luft. Im Park herrschte Stille, nur einige Kinderwagen standen mit den Babys der Sonne zugewandt. Auf den mit dichtem Laub bedeckten Alleen kam nur selten jemand vorbei.
Der Alte schlief auf der Bank, in seinen ausgebleichten Mantel eingehüllt, den Spazierstock unter dem Nacken. Er schlief traumlos.
Vorbei waren die schönen Tage, lang und warm, an denen der Park von morgens bis abends voller Menschen war.
In jenen Tagen stellten sich als erste, noch im Morgengrauen, die Läufer ein. Allen voran erschien auf den geschotterten Wegen der Ingenieur, ein fülliger Endfünfziger, der lautstark ein- und ausatmete. Wenig später kamen auch die beiden anderen. Der Alte wusste nicht, wer sie sind und was sie arbeiten. Sie waren zwischen vierzig und fünfundvierzig, schlank, glattrasiert und in Turnhosen. Die drei rannten durch die Alleen, liefen aneinander vorbei, aber weder grüßten sie, noch nickten sie einander zu, und das beeindruckte den Alten am meisten.
Kurz darauf eilten die Kleinen auf dem Weg zum Kindergarten vorbei. Noch den Schlaf in den Augen, trippelten sie, an der Hand gezogen, hinter ihren Eltern her.
Von allen Seiten des Parks strömte die erste Schicht in die nahe gelegene Blechfabrik, meistens Frauen, die Konservenbüchsen stanzten.
Auch der Hund tauchte auf, groß, schwarz, mit klugen glänzenden Augen. Er jagte mit riesigen Sätzen im Gebüsch umher, verschwand in Richtung des Denkmals in der Mitte des Parks. Der Alte hatte den Besitzer des Hundes nie zu Gesicht bekommen, ihn nie pfeifen oder rufen hören. Er begriff, dass Herr und Hund einander ,,wortlos“ verstanden. Und wenn der Hund als dunkler Schatten zwischen den Bäumen verschwand, wusste der Alte, dass sie gegangen waren.
Danach drangen auch schon die Schüler in den Park ein, die zur Schule gingen. In jugendlichem Übermut jagten sie einander über den Rasen, warfen ihre Taschen und Mützen in die Luft und lachten lauthals, ohne Grund.
Nach ihnen zog Stille in den Park ein. Die Sonne blinzelte zwischen den Blättern der Kastanien hindurch, noch hoch und weit entfernt, Spinnweben glänzten kurz im Sonnenlicht, und die ersten Schmetterlinge begannen wie an unsichtbaren Fäden am Himmel zu schweben.
Den Schmetterlingen folgten die Rentner, um einzukaufen, solange es noch keine Schlangen gab und die Geschäfte halbleer waren.
Eine Stunde später stellten sich schon die Frühaufsteherinnen unter den jungen Müttern ein, richteten ihre Kinderwagen nach der Sonne aus, deckten die Babys zu und ließen sich auf den Bänken nieder. Ein langer Tag im Park, an der Sonne und an frischer Luft lag vor ihnen.
Fast zur gleichen Zeit kamen auch die Gärtner, um zu sprengen. Das Gras bog sich unter dem Strahl, unerwartet grün, von den Zweigen tropfte Wasser, in der Luft glänzten kleine Regenbogen.
Später erschienen auch diejenigen Schüler, die den Unterricht schwänzten. Sie versammelten sich auf einer der verborgenen Bänke, zündeten Zigaretten an, und leichter bläulicher Rauch stieg in die klare Luft empor.
Die Sonne stand schon hoch über dem Park, und an dem blauen Himmel waren keine Wolken zu sehen, als seine Altersgefährten einer nach dem anderen eintrafen. Sie ließen sich auf den Bänken nieder, öffneten die Morgenzeitungen und vertieften sich in die Seiten.
Wenn sie die Zeitungen zu Ende gelesen hatten, ging der Alte zu ihnen. Man begann zu erzählen, lang und ausführlich, jeder erinnerte sich an irgendetwas für ihn sehr Wichtiges, und die anderen lauschten geduldig, bis die Reihe an sie kam.
Die Themen wechselten. Die Alten sprangen vom Krieg zur Gesetzgebung über, dann wendeten sie sich der Dürre zu und sprachen über irgendein Erdbeben.
Der Alte beteiligte sich nicht an den Gesprächen, er schwieg, zufrieden, dass er unter ihnen war und sie verstand, er lachte über die Späße, hörte sich die Streitgespräche an und nahm immer Partei, aber nur schweigsam, für sich; selten mischte er sich ein.
So kam die Mittagszeit heran, wo die Alten den Park verließen, um sich hinzulegen, und die Arbeiterinnen aus der Blechdosenfabrik sich auf den Bänken ausstreckten, um sich über ihre Mittagspause müde in der Sonne auszuruhen.
Zwischen ein und vier Uhr wurde es still im Park. Die Säuglinge schliefen, ein Student blätterte leise in seinen Lehrbüchern und machte sich Notizen, die Luft war warm und unbeweglich. Auch der Alte nickte ein, den Stock unter den Nacken geschoben, in seinen verblichenen Mantel gehüllt. Über dem Park lag Ruhe, und der Schatten des Denkmals wandelte langsam gen Osten.
Gegen fünf Uhr kam der Wächter des Parkes. Sie zündeten Zigaretten an und unterhielten sich. Der Wächter sprach und der Alte lauschte. Der Wächter klagte über das Leben, über seine Gesundheit, über die Jugend, der es an Achtung für alles fehle, über seine Frau, die sich ständig über alles beklage. Während sie sich unterhielten, trafen auch die Alten erneut im Park ein, ausgeruht, mit den Abendzeitungen in den Händen. Die Unterhaltung drehte sich um allgemeine Themen, die Frage war, ob es Krieg geben oder nicht geben und ob etwas von dieser Welt übrigbleiben oder alles in Trümmern untergehen würde. Die Glocke der Kirche am Ende des Parks ertönte, sie schlug sechsmal, die Kinderwagen wurden nach Hause geschoben. Die Alten waren in ihren Gesprächen schon wieder bei der Gesundheit angelangt und bei der fragwürdigen Nützlichkeit verschiedener Heilbäder.
Sie unterhielten sich auch noch, als der Abend schon lautlos in den Park einzog, zusammen mit den ersten Liebespaaren. Die Bänke und Alleen leerten sich allmählich, die Alten gingen einer nach dem anderen nach Hause, und in immer größeren Abständen war das Geräusch vorbeifahrender Straßenbahnen zu hören.
Um diese Zeit tauchten gewöhnlich die Jungen auf, schleppten zwei Bänke ins Gebüsch, und lange noch klangen von dort die Gitarren und die fremden englischen Wörter der Lieder herüber, die der Alte nicht verstand. Von Zeit zu Zeit nur fing er die Verzweiflung in einigen von ihnen oder das Leid auf, und spürte, dass jener, der die Lieder geschrieben hatte, auch einsam gewesen sein musste oder die Einsamkeit kannte.
Die Küsse der Verliebten auf den Bänken wurden länger, in den Zweigen über dem Alten bereiteten sich die Vögel auf den Schlaf vor und raschelten mit den Flügeln, die Nacht senkte sich auf den Park nieder.
Als letzte zogen die Betrunkenen durch den Park. Sie kamen aus dem nahegelegenen Gasthaus, das gerade seine Pforten geschlossen hatte, sie schwankten mit unsicheren Schritten die Alleen entlang und stritten sich. Ihre heiseren Stimmen gingen in der Dämmerung unter, um in der nächsten Nacht wieder zu ertönen, wo die Männer erneut umarmt einhertaumelten und aus vollem Halse sangen: „Die Hähne haben noch nicht gekräht, warte, meine Liebe, geh noch nicht fort…“
Danach blieb der Park menschenleer.
Die Sterne standen klar und hell am Himmel, der Alte lag auf der Bank, eingehüllt in seinen verblichenen Mantel, und dachte nach. Er war noch nicht müde und konnte nicht schlafen.
Er dachte über das Leben nach und wie es manchmal verläuft, erinnerte sich an verschiedene Dinge, an seine Jugend…
An die Bankfiliale, in der er sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, an die Kollegen, die Buchhalter, an die erste Gehaltserhöhung, die ihm der stellvertretende Direktor, Herr Tewekeliew, persönlich mitgeteilt hatte…
Auch an die Hochzeit erinnerte er sich, an das Gesicht von Maria, seiner Frau, hinter dem durchsichtigen Schleier; als sie die Kirche verließen, stieg plötzlich ein Schwarm Tauben aus den gegenüberliegenden Kastanienbäumen in die Höhe…
Er erinnerte sich an seine erste Liebe, sie duftete nach Sauberkeit, nach Quitten, noch immer stand die Laube vor seinen Augen, die berauschende Mondnacht, die raschelnden Röcke des Mädchens. Wie sehr er sie geliebt, wie sehr sie ihn geliebt hatte!
Er erinnerte sich auch an die blühenden Zwetschgenbäume, unter denen wie in einer weißen Wolke sein Vaterhaus versunken war, an die Pferde am Fluss, an die Brücke, von der sie als Kinder ins Wasser hinuntergesprungen waren. Auch seine Mutter tauchte in seiner Erinnerung auf – sie knetete Brot, er aber stand am Backofen und schaute in die Glut.
Und er dachte an seine Kinder. Wie er auf das erste, den Sohn, vor dem Krankenhaus gewartet hatte, in dem dünn gewordenen Mantel, mit der weichen Mütze, der Schnee bedeckte ihn, und er stampfte mit den Halbschuhen. Wie sich der Junge die Wange als Dreijähriger verletzt hatte und man sie ihm nähte. Und wie sie ihm die Uniformjacke und Hosen fürs Gymnasium kauften, und alles ihm zu groß war, und dem Jungen die Tränen in den Augen standen. Und später, als er Lungenentzündung bekam… Und wie er das Diplom von der Universität nach Hause brachte und ihn küsste.
Und das Mädchen, es wurde sechs Jahre nach dem Jungen geboren, ganz ihre Mutter, mit großen schwarzen Augen, sie sang ununterbrochen. Er trug sie auf dem Rücken, sie machten Ausflüge. Als sie acht Jahre alt war, wurden sie im Gebirge vom Schneesturm überrascht, im Mai, er wusste weder aus noch ein, aber ihr war nichts geschehen, nicht einmal Schnupfen bekam sie. Sie war in ständiger Bewegung, sang, in der Schule hatten sie alle gern, auch an der Universität. Sie heiratete sehr früh.
Die Kinder waren schon groß, hatten schon eigene Kinder und wohnten am anderen Ende der großen Stadt, weit entfernt von dem Park. Sicher dachten auch sie jetzt an ihre Kinder, wenn sie zu dieser späten Stunde nicht bereits schliefen.
Sie interessierten sich nicht für ihren Vater.
Seine Frau starb, die Kinder verkauften das Haus und begannen ihn sich einander zuzuschieben. Ein halbes Jahr wohnte er bei dem einen und ein halbes Jahr bei dem anderen. Er hatte es gut, wenn nur nicht diese Genauigkeit gewesen wäre.
Sie führten ihn einander auf die Sekunde genau zu.
Der Alte betete heimlich, dass sie sich einmal irren, vergessen oder ihn einen Tag länger bei sich behalten würden, was war schon ein Tag…
Aber sie irrten sich nie. Das Jahr war genau in zwei Hälften geteilt, Feier- oder Wochentag, Winter oder Sommer, genau an dem festgelegten Tag rief eines seiner Kinder das andere an und erinnerte es kurz daran, zu kommen und ihn abzuholen. Und jenes kam sofort.
Gerade diese Genauigkeit hatte den Alten dazu bewogen, zu verschwinden.
Er hatte sie belogen, dass er bei einem Freund wohnen würde, bei Sinowi Michow, einem alten Kollegen aus der Bank, und sie glaubten ihm. Er überzeugte sie, dass es so besser für ihn wäre, dass er sich einsam ohne Freund fühle und dass auch dieser Freund einsam sei. Er hatte sie eingeladen, sich das Haus anzusehen, und sie hatten sich davon überzeugt, dass er gut aufgehoben war. Sinowi Michow wohnte allein in einer Vier-Zimmer-Wohnung mit Kachelöfen und alten Wiener Möbeln.
Sie suchten ihn noch einige Male auf. Sinowi Michow erzählte ihnen, dass es ihm gut ginge, dass er nach Pomorje zu den Schlammbädern gefahren sei. Oder, dass er die Donau entlangfahre, mit dem Dampfer, bei einer jener Flussreisen, zu denen sich nur alte Leute zusammenfinden. Oder auch, dass er irgendwo in der Stadt sei, aber er nicht wisse, wann er zurückkehren werde, wahrscheinlich hätten ihn Gespräche aufgehalten. Beruhigt, dass es ihm gut ginge, glaubten sie es gern und brachen wieder auf. Später hörten sie auf, ihn zu suchen.
Der Alte aber lebte im Park.
Die Tage waren lang und warm, ringsumher wimmelte es von Menschen, die Kastanien blühten und verblühten, betäubende Düfte breiteten sich im Juli aus. Die Nächte waren heiß, der Alte legte seinen Stock unter den Kopf, er legte ihn quer über die Lehne der Bank und die unteren Bretter, so dass er ihm als Kopfkissen diente, aus dem Gebüsch erklangen die Gitarren, und junge Stimmen sangen dazu.
Dann starb Sinowi Michow, und niemand blieb mehr übrig.
Der Alte lebte im Park.
Die Läufer legten Kilometer um Kilometer zurück, in der Blechdosenfabrik lärmten die Pressen beim Stanzen der Konservenbüchsen, der Hund schoss durch die Zweige wie ein Pfeil.
So verging der Sommer, und es kam der Herbst. Er war lang und warm, nur die Tage wurden immer kürzer, es dämmerte schon früh, und die Dunkelheit brach schon gegen sechs Uhr durch die Zweige hernieder.
Auch der Altweibersommer ging vorüber, mit seinen hellen und klaren Tagen, er war ein Geschenk Gottes, nur die Nächte waren kalt und die Alleen wurden von dichtem Laub zugedeckt.
In den Park kamen immer weniger Menschen, die Alten blieben zu Hause, der Student hatte seine Prüfungen bestanden und war nach Kardschali abgefahren, und niemand sprengte mehr den Rasen.
In den letzten Herbsttagen brächen die Sonnenstrahlen um die Mittagszeit durch und wärmten etwas die Luft. Dann schlief der Alte, in seinen verblichenen Mantel gehüllt, den Kopf auf den Spazierstock gebettet.
Später zogen Nebel auf, der Wind blies, Herbstregen fiel, und der Park verödete.
Der Alte blieb allein.
Er saß im Nebel und lauschte dem Regen.
Bald darauf fiel der erste Schnee, der Winter kam, im Park war nun niemand mehr außer dem Alten, und er flog mit den letzten Vögeln nach dem Süden.
Als der Schwarm die letzte Runde über der Stadt machte, sah der Alte weit unten auf der Erde den kleinen rostigen Fleck des Parkes.
Der Schnee deckte ihn nach und nach zu.